Knallrot, Blitzblau und Donnergrün (von Norbert Neumann)
»Das Theater würde ihm gleich in die Augen springen...«, da war sich Hanno Buddenbrook in seiner weihnachtlichen Bescherungsvorfreude ganz gewiß - und wurde nicht enttäuscht. Was Thomas Mann seinem Alter Ego in den »Buddenbrooks« »andichtet«, entspricht durchaus der Realität in den Bürgerstuben des 18., 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Kindheitserinnerungen, in deren Mittelpunkt das Puppentheater steht - und das meint im häuslichen Milieu jener Zeit meistens das, was wir heute übergreifend Papiertheater nennen -, spielen in vielen Biographien eine große, nicht selten die berufliche Zukunft prägende Rolle.
Schon Schiller spielte als Knabe mit selbst gemalten Pappfiguren Theater, wie später der Schüler Aubrey Beardsley. Robert Louis Stevenson setzte dem englischen Toy Theatre und seinen Bilderbogendruckern mit seinem Essay »A Penny Plain and Twopence Coloured« ein literarisches Denkmal. Franz Werfel und Albrecht Goes waren »Regisseur, Sprecher und Zuschauer« (Goes) ihrer papierenen Bühnen. Der große Shakespeare-Regisseur Peter Brook hatte seine erste Begegnung mit dem Theater vor einem Papiertheater.
Krimi-Regisseur Jürgen Roland erinnert sich: »Mit dem Figurentheater (tatsächlich war es ein Papiertheater - d. A.) meiner Urgroßmutter hab' ich als Sextaner Klassiker aufgeführt.« Und fünf Jahre war der berühmte Sänger Dietrich Fischer-Dieskau alt, als ihm ein hellsichtiger Onkel sein erstes Papiertheater schenkte. In seinen Memoiren bekennt der Künstler: »...zwischen den Pappkulissen aus dem Neuruppiner Bilderbogen hat sich mein Schicksal geformt.«
So viele lebendige Erinnerungen - und doch war das Papiertheater bei uns in Deutschland, einem seiner Stammländer, beinahe tot und vergessen. Untergegangen in den Fluchten und Feuerstürmen des 20. Jahrhunderts. Anders als in England oder Dänemark, wo die Tradition ungebrochen ist, begegnet der Liebhaber hierzulande meist fragenden Blicken: Papiertheater, was ist das?
Für die Systematiker ist es populäre Druckgrafik, Unterabteilung Ausschneidebogen - denn die Teile des Proszeniums, die Kulissen und die Figuren werden ja ausgeschnitten und zu Mini-Theatern zusammengefügt -, für die Forscher Zeugnis der Theater- und Sozialgeschichte, für die Spieler ein Ausdrucksmedium und für die Verrückten (wie den Schreiber) begehrtes Sammelobjekt.
Papiertheater. Als dieses Medium in Blüte stand, gab es diesen Begriff noch gar nicht. Geprägt hat ihn unseres Wissens der Sammler und Forscher Walter Röhler, indem er sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Erscheinungsformen bezog, das vorherrschende Material, das Papier.
Vorher hieß es Puppentheater, wie in Dänemark noch heute Dukketeater; Juvenile Drama in England in der frühen Phase, heute Toy Theatre oder Modeltheatre; bei uns schließlich - wenn nicht zu seiner künstlerischen Hochblüte, so doch zumindest zur Zeit seiner größten Popularität - Kindertheater.
Und wer hat es erfunden, dieses Papiertheater?
Die ältesten erhaltenen Bogen sind von 1811 und stammen von dem Londoner Drucker William West. Also haben's die Engländer erfunden?! - Wenn da nicht ein alter Katalog mit u. a. Papiertheatern wäre, von Georg Hieronimus Bestelmeyer, Nürnberg 1803. Niemand konnte bis heute feststellen, wer diese Papiertheater hergestellt hat...
Die Wiener haben gern behauptet, ihr k. u. k. Offizier Trentsensky habe das Papiertheater erfunden. Der hat zwar wunderbare graphische Kunstwerke an Ausschneidebogen herausgebracht. Aber erst seit dem Jahr 1825. Wer also ist der Erfinder? Ich denke: der Zeitgeist, die Theaterbegeisterung des aufsteigenden Bürgertums, der Hunger nach Bildern.
Die Wurzeln gehen weit ins 18. Jahrhundert zurück. Es begann vermutlich mit Schauspielerporträts, in Kupfer gestochen, die man mit nach Hause nahm, wie man heute Fotos von Filmschauspielern sammelt. Dann die wunderbaren Guckkastenbilder, die Dioramen, beispielsweise von Engelbrecht, die Krippen, die man auch »gefrorenes Theater« nennt. Da brauchte nur noch ein Theaterbegeisterter die Figuren mit der Schere zu »befreien«. Aus Schwaben wissen wir, daß bereits im 18. Jahrhundert mit Papierkrippen häusliche »Theatervorstellungen« gegeben wurden.
Der französische Papiertheater-Künstler Alain Lecucq bietet jetzt folgende logische Definition an: Die Geschichte des eigentlichen Papiertheaters beginnt mit der Veröffentlichung des ersten Proszeniums. Nur: Das muß erst noch gefunden werden.
Sicher ist jedenfalls: Zum Massenmedium des 19. Jh. konnten Bilderbogen und Papiertheater erst durch Alois Senefelders Erfindung der Lithographie Ende des 18. Jh. werden. Holzschnitt und Kupferstich hatten jahrhundertelang nur begrenzte, d. h. teure Auflagen zugelassen. Der Druck vom Stein war nahezu unbegrenzt und machte das Bild jedermann zugänglich.
Und brachte auch die Namen der Drucker unter die Leute. »Knallrot, Blitzblau, Donnergrün, gedruckt und zu haben bei Gustav Kühn« wurde zu einem der frühesten Werbesprüche. Dabei waren es neben Kühn Oehmigke & Riemschneider, die den Neuruppiner Bilderbogen zu einem internationalen Begriff machten. Weit über 50 Drucker/Verleger veröffentlichten allein in Deutschland Tausende von Motiven auf Papiertheaterbogen, darunter Winckelmann & Söhne in Berlin, Jos. Scholz in Mainz und J. F. Schreiber in Esslingen, der erst 1878 begann, aber dann für die größte Verbreitung und Etablierung des Begriffs Kindertheater sorgte.
Den Neuruppiner Bilderbogen entspricht in Frankreich die Imagerie d'Epinal. »Dänische Bilder für dänische Kinder« setzte Alfred Jacobsen nach dem deutsch-dänischen Krieg der Neuruppiner Bilderflut entgegen und schuf damit ein bis heute lebendiges eigenständiges dänisches Papiertheater. Großbritannien und Österreich wurden bereits kurz erwähnt. Allen den ihnen gebührenden Raum zu geben, fehlt hier der Platz.
Das Papiertheater ist eine europäische Bühne. Und auf der agieren heute nicht nur Nostalgiker. Neue kreative Kräfte haben das alte Medium entdeckt und in seinem scheinbar engen Rahmen neue Bilder, neue Formen, neue Dramaturgien entwickelt, bis hin zu den abstrakten »Variationen über Kandinsky« des Niederländers Frits Grimmelikhuizen. Ein im wahrsten Sinne des Wortes mitreißender Bilderfluß bei offener Bühne beginnt bei dem Engländer Robert Poulter wie bei dem Deutschen Rüdiger Koch das traditionelle Staccato von Akt, Szene, Vorhang abzulösen. -
Der dänische Schriftsteller Peter Høeg sagt über das Papiertheater: »Es ist nichts, nur Papier, und doch ist es die ganze Welt.« Diese Ausstellung lädt Sie ein, in die knallrote, blitzblaue und donnergrüne Welt einzutauchen.
Text aus dem Faltblatt zur Ausstellung "Knallrot, Blitzblau und Donnergrün... des Papiertheaters INVISIUS
Schon Schiller spielte als Knabe mit selbst gemalten Pappfiguren Theater, wie später der Schüler Aubrey Beardsley. Robert Louis Stevenson setzte dem englischen Toy Theatre und seinen Bilderbogendruckern mit seinem Essay »A Penny Plain and Twopence Coloured« ein literarisches Denkmal. Franz Werfel und Albrecht Goes waren »Regisseur, Sprecher und Zuschauer« (Goes) ihrer papierenen Bühnen. Der große Shakespeare-Regisseur Peter Brook hatte seine erste Begegnung mit dem Theater vor einem Papiertheater.
Krimi-Regisseur Jürgen Roland erinnert sich: »Mit dem Figurentheater (tatsächlich war es ein Papiertheater - d. A.) meiner Urgroßmutter hab' ich als Sextaner Klassiker aufgeführt.« Und fünf Jahre war der berühmte Sänger Dietrich Fischer-Dieskau alt, als ihm ein hellsichtiger Onkel sein erstes Papiertheater schenkte. In seinen Memoiren bekennt der Künstler: »...zwischen den Pappkulissen aus dem Neuruppiner Bilderbogen hat sich mein Schicksal geformt.«
So viele lebendige Erinnerungen - und doch war das Papiertheater bei uns in Deutschland, einem seiner Stammländer, beinahe tot und vergessen. Untergegangen in den Fluchten und Feuerstürmen des 20. Jahrhunderts. Anders als in England oder Dänemark, wo die Tradition ungebrochen ist, begegnet der Liebhaber hierzulande meist fragenden Blicken: Papiertheater, was ist das?
Für die Systematiker ist es populäre Druckgrafik, Unterabteilung Ausschneidebogen - denn die Teile des Proszeniums, die Kulissen und die Figuren werden ja ausgeschnitten und zu Mini-Theatern zusammengefügt -, für die Forscher Zeugnis der Theater- und Sozialgeschichte, für die Spieler ein Ausdrucksmedium und für die Verrückten (wie den Schreiber) begehrtes Sammelobjekt.
Papiertheater. Als dieses Medium in Blüte stand, gab es diesen Begriff noch gar nicht. Geprägt hat ihn unseres Wissens der Sammler und Forscher Walter Röhler, indem er sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der verschiedenen Erscheinungsformen bezog, das vorherrschende Material, das Papier.
Vorher hieß es Puppentheater, wie in Dänemark noch heute Dukketeater; Juvenile Drama in England in der frühen Phase, heute Toy Theatre oder Modeltheatre; bei uns schließlich - wenn nicht zu seiner künstlerischen Hochblüte, so doch zumindest zur Zeit seiner größten Popularität - Kindertheater.
Und wer hat es erfunden, dieses Papiertheater?
Die ältesten erhaltenen Bogen sind von 1811 und stammen von dem Londoner Drucker William West. Also haben's die Engländer erfunden?! - Wenn da nicht ein alter Katalog mit u. a. Papiertheatern wäre, von Georg Hieronimus Bestelmeyer, Nürnberg 1803. Niemand konnte bis heute feststellen, wer diese Papiertheater hergestellt hat...
Die Wiener haben gern behauptet, ihr k. u. k. Offizier Trentsensky habe das Papiertheater erfunden. Der hat zwar wunderbare graphische Kunstwerke an Ausschneidebogen herausgebracht. Aber erst seit dem Jahr 1825. Wer also ist der Erfinder? Ich denke: der Zeitgeist, die Theaterbegeisterung des aufsteigenden Bürgertums, der Hunger nach Bildern.
Die Wurzeln gehen weit ins 18. Jahrhundert zurück. Es begann vermutlich mit Schauspielerporträts, in Kupfer gestochen, die man mit nach Hause nahm, wie man heute Fotos von Filmschauspielern sammelt. Dann die wunderbaren Guckkastenbilder, die Dioramen, beispielsweise von Engelbrecht, die Krippen, die man auch »gefrorenes Theater« nennt. Da brauchte nur noch ein Theaterbegeisterter die Figuren mit der Schere zu »befreien«. Aus Schwaben wissen wir, daß bereits im 18. Jahrhundert mit Papierkrippen häusliche »Theatervorstellungen« gegeben wurden.
Der französische Papiertheater-Künstler Alain Lecucq bietet jetzt folgende logische Definition an: Die Geschichte des eigentlichen Papiertheaters beginnt mit der Veröffentlichung des ersten Proszeniums. Nur: Das muß erst noch gefunden werden.
Sicher ist jedenfalls: Zum Massenmedium des 19. Jh. konnten Bilderbogen und Papiertheater erst durch Alois Senefelders Erfindung der Lithographie Ende des 18. Jh. werden. Holzschnitt und Kupferstich hatten jahrhundertelang nur begrenzte, d. h. teure Auflagen zugelassen. Der Druck vom Stein war nahezu unbegrenzt und machte das Bild jedermann zugänglich.
Und brachte auch die Namen der Drucker unter die Leute. »Knallrot, Blitzblau, Donnergrün, gedruckt und zu haben bei Gustav Kühn« wurde zu einem der frühesten Werbesprüche. Dabei waren es neben Kühn Oehmigke & Riemschneider, die den Neuruppiner Bilderbogen zu einem internationalen Begriff machten. Weit über 50 Drucker/Verleger veröffentlichten allein in Deutschland Tausende von Motiven auf Papiertheaterbogen, darunter Winckelmann & Söhne in Berlin, Jos. Scholz in Mainz und J. F. Schreiber in Esslingen, der erst 1878 begann, aber dann für die größte Verbreitung und Etablierung des Begriffs Kindertheater sorgte.
Den Neuruppiner Bilderbogen entspricht in Frankreich die Imagerie d'Epinal. »Dänische Bilder für dänische Kinder« setzte Alfred Jacobsen nach dem deutsch-dänischen Krieg der Neuruppiner Bilderflut entgegen und schuf damit ein bis heute lebendiges eigenständiges dänisches Papiertheater. Großbritannien und Österreich wurden bereits kurz erwähnt. Allen den ihnen gebührenden Raum zu geben, fehlt hier der Platz.
Das Papiertheater ist eine europäische Bühne. Und auf der agieren heute nicht nur Nostalgiker. Neue kreative Kräfte haben das alte Medium entdeckt und in seinem scheinbar engen Rahmen neue Bilder, neue Formen, neue Dramaturgien entwickelt, bis hin zu den abstrakten »Variationen über Kandinsky« des Niederländers Frits Grimmelikhuizen. Ein im wahrsten Sinne des Wortes mitreißender Bilderfluß bei offener Bühne beginnt bei dem Engländer Robert Poulter wie bei dem Deutschen Rüdiger Koch das traditionelle Staccato von Akt, Szene, Vorhang abzulösen. -
Der dänische Schriftsteller Peter Høeg sagt über das Papiertheater: »Es ist nichts, nur Papier, und doch ist es die ganze Welt.« Diese Ausstellung lädt Sie ein, in die knallrote, blitzblaue und donnergrüne Welt einzutauchen.
Text aus dem Faltblatt zur Ausstellung "Knallrot, Blitzblau und Donnergrün... des Papiertheaters INVISIUS